Sehen, Hören, Verstehen

 Nicht das Sehen war im Anfang, im Anfang war das Wort. Das noch Ungeborene hört schon, aber es sieht noch nicht. Das Neugeborene hört die Stimme der Mutter, noch bevor es sie sieht, bevor es sie erkennt, bevor es sie wiedererkennt. Sehen kommt nach dem Hören, aber vor dem Verstehen.

 

Obwohl das Auge bei der Geburt bereits sehr weit entwickelt ist, entstehen die sensorischen Funktionen des Auges erst allmählich, es gibt also eine Entwicklung des Sehens. Auf jeder visuellen Entwicklungsstufe kommt es zunächst zu einer Koordination von Gesichtssinn und anderen Systemen der Umweltwahrnehmung. Das Sehen muss buchstäblich erst erlernt werden, so dass die Dinge der Umwelt, die auf der Netzhaut abgebildet werden, durch Erkennen, Wiedererkennen und dadurch gewonnene Erfahrungen dem Kind mit der Zeit verständlich werden. Bilder, gesehene Dinge, die das Auge erkennt und wahrnimmt, sprechen noch nicht, die Sprache der gesehenen Dinge muss erst erlernt werden. Die gesehenen Dinge sind noch keine sprechenden Bilder.

 

Zuerst saugt der Säugling nur dann, wenn die Brust der Mutter seinen Mund berührt. Einige Zeit später aber führt er schon die gleichen Saugbewegungen aus, wenn er die Brust nur auf sich zukommen sieht. Auch wendet er seinen Blick nach Gegenständen, die Geräusche von sich geben. Akustische Signale verstärken visuelle Signale. Das sich entwickelnde Kind verschafft sich dadurch, dass es alles anfasst, in den Mund nimmt und damit untersucht, Erfahrungen, unter Umständen auch schmerzhafte, die ihm eines Tages erlauben, nur mit Hilfe der Augen seine Umwelt zu erkennen, auch wenn die Verbindung zu den anderen Sinnen nie ganz verloren gehen wird. Der Verstand des neugeborenen Kindes ist eine Masse primitiver Instinkte, das Sehen ist wie eine Sprache, die Wort für Wort und Satz für Satz erlernt werden muss.

 

Die Bilder, mit denen wir aufwachsen, besitzen eine Unschuld, so wie jeder Mensch Unschuld besitzt. Einmal hat jeder Mensch eine Unschuld gehabt, in jeder Hinsicht. Die Unschuld des Menschen liegt in der Unschuld seiner Bilder. Verlieren die Bilder ihre Unschuld, verliert sie auch der Mensch - damals, als er das Sehen erlernte. Als er noch sah, ohne zu sehen. Noch sah, ohne zu erkennen. Noch erkannte, ohne zu wissen und zu verstehen.

 

Für das Kind ist eine Rose noch keine Rose, ein Hut noch kein Hut, ein Messer noch kein Messer. Es sind Konturen, nichts weiter. Was diese Konturen bedeuten, weiß das Kind nicht. Es weiß noch nichts von einer Rose, noch nichts von einem Hut, noch nichts von einem Messer. Noch nichts davon, ob eine Rose schön, ein Hut praktisch, ein Messer gefährlich ist. Sein Sehen ist ganz unschuldig, weil es noch kein Wissen hat. 

 

Bis dann der Tag kommt, wo es Wissen erhält. Bis man dem Kind sagt: Dies sind die Konturen einer Rose, eines Hutes, eines Messers. Und ihm erklärt, dass eine Rose schön, ein Hut praktisch, und ein Messer gefährlich ist. Und wenn das Kind zum ersten Mal die Rose wiedererkennt, und den Hut und das Messer, dann weiß es, dass die Rose schön, der Hut praktisch, und das Messer gefährlich ist. Die Konturen sind zu Formen geworden und die Formen zu Bildern. Und die Bilder haben zu sprechen begonnen und damit Bedeutung erlangt und so ihre Unschuld verloren. Seine Unschuld verliert der Mensch durch Wissen. Und durch Wissen entsteht Ungleichheit und Macht. Und durch Macht das Böse, manchmal auch das Gute, aber selten.

 

Man kann sich fragen, warum das Gesicht in einem Spiegel das eigene Gesicht ist, warum man der ist, den man sieht. Nun, weil man sich in dem Spiegel sieht, wird man sagen, in dem Spiegel erkennt. Gewiss, doch ist dieses sich Erkennen nur möglich, weil man sich erinnert. Man könnte sein Gesicht nicht erkennen, könnte man sich nicht daran erinnern. Und kann man sich an sein Gesicht nicht erinnern, dann kann man sich auch nicht mehr als den erkennen, der man ist. Sehen ist Erkennen und Erinnern.