Auge und Sehen

 

Von Geburt an lebt der Mensch mit dem Licht, sieht mit Hilfe des Lichtes, erkennt seine Umwelt und orientiert sich in ihr. Das Auge reagiert auf Licht, jeder Gegenstand wird durch Licht erst sichtbar, entweder durch Licht, das er selbst ausstrahlt oder durch Licht, das von ihm reflektiert wird.

 

Jegliche Informationen über die Umwelt wie über uns selbst erhalten wir vermittels unserer Sinne, von denen für den Menschen – anders als bei vielen Tierarten – der Gesichtssinn der wichtigste ist. Mit Hilfe des Lichtes sieht der Mensch, erkennt er seine Umwelt und orientiert sich in ihr.

 

Der Mensch ist ein „Augentier“ und verlangt auch im geistigen Leben nach Anschaulichkeit. Licht fällt ins Auge, wird gebrochen, abgebildet und liefert damit Informationen über die Gegenstände, die es auf seinem Weg berührt oder passiert hat. Das Bewusstsein, das als Ausdruck normaler Funktionen des gesamten zentralen Nervensystems aufzufassen ist, übersetzt alles, was das Sinnesorgan Auge aufnimmt, in Empfindungen und Wahrnehmungen, die zumindest ebenso wie unsere Gedanken unser Wachempfinden ausfüllen.

 

Das System der optischen Wahrnehmung ist bei uns Menschen höher entwickelt als bei irgendeinem Tier. Unser Gesichtssinn beansprucht demnach ein kompliziertes Zusammenspiel zwischen Auge und dem ihm zugeordneten Teilen des Gehirns sowie ein verbindendes System von Nervenleitungen und Umschaltstationen.

 

Anders als mit der Fotokamera ist das Sehen mit den Augen kein einfacher und unmittelbarer Vorgang. Während bei der Kamera ein Abbild der Umwelt in das Gehäuse eintritt und auf dem Film sichtbar wird, bilden beim Menschen Auge und Gehirn ein gemeinsames System, welches das aus der Außenwelt einströmende Datenmaterial analysiert, weiterleitet, verarbeitet und gegebenenfalls speichert.                                                 

 

Da der Gesichtssinn des Menschen in enger Beziehung zu den übrigen Sinnen steht, kann dieser optisch wahrgenommene Ausschnitt der Umwelt wiederum nicht von den Informationen getrennt werden, die gleichzeitig vermittels anderer Sinne dem Menschen bewusst werden. Im Gegensatz zu vielen Tierarten, die sich nur auf einen Sinn verlassen, arbeiten bei Menschen die Sinne zusammen, verstärken Bewusstseinsinhalte, bestätigen Eindrücke oder korrigieren sie.       

 

Millionen von Dingen bieten sich in der Umwelt dem Auge an. Die Kamera zeichnet alles auf, was sie mit ihrem Bildwinkel erfasst, wohingegen das vom Gehirn geleitete Auge selektiv und subjektiv sieht, nur das bemerkt, woran der Geist interessiert ist, das was er sehen möchte oder zu sehen gezwungen wird. Die meisten Dinge, die wir „sehen“, dringen niemals richtig in unser Bewusstsein ein, werden von uns nicht wahrgenommen, weil sie für uns keine Bedeutung besitzen. Ein Grund dafür, warum Vieles, das „gesehen“, nicht auch erinnert wird.                                                                  

Dies ist so, weil das Auge nicht nur ein optisches System ist, das Bilder empfängt, weiterleitet und aufzeichnet, sondern mit dem Gehirn zusammen ein System bildet, welches die aus der Außenwelt einströmenden Daten analysiert, ordnet und weiterleitet. Der US-amerikanische Philosoph und Psychologe William James, der als Begründer der Psychologie in den USA gilt, sagte einmal: „Millionen von Dingen bieten sich in der Umwelt meinen Sinnen an, doch dringen sie nie richtig in mein Bewusstsein ein. Warum? Weil sie für mich keine Bedeutung besitzen. Meine Erfahrung besteht aus dem, was ich aufnehmen will. Nur was ich wahrnehme, formt meinen Geist – ohne ein selektives Interesse ist Erfahrung ein völliges Chaos.“ 

 

Sehen und Wahrnehmen sind also an das Denken gebunden, wir denken oft, wie wir sehen und umgekehrt. Was im Bereich des Denkens Verstehen genannt wird, vollbringt auf der sinnlichen Ebene das Wahrnehmen. Dadurch werden die Dinge wiedererkannt, und zwar so, wie sie im Rahmen von Erfahrungen, Erwartungen und Wissen sinnvoll erscheinen. Die Ausscheidung unnötiger optischer Informationen ist ein wesentlicher Teil eines für uns wichtigen Ordnungsprozesses. Die Erfahrungen, die ein Mensch in seinem bisherigen Leben gewonnen hat, bestehen somit im wesentlichen aus dem, was er aufnehmen wollte. Und auch die Erfahrungen, die er in seinem zukünftigen Leben noch machen wird, werden auf gleiche Weise gewonnen. Nur aus selektivem Interesse entstehen Erfahrungen und Erinnerungen. Information aber, wie sie heute den Menschen überflutet, schafft bei ihm nicht nur neue Erkenntnisse, sondern deckt auch bestehende wieder zu. Dies gilt gleichermaßen für Worte wie Bilder.

 

Wir sind an das selbstständige und unauffällige Funktionieren des Gesichtssinnes so sehr gewöhnt, dass wir die Richtigkeit unserer optischen Wahrnehmungen als selbstverständlich hinnehmen und erst dann alarmiert werden, wenn diese uns verändert erscheinen. Dann nämlich wird uns bewusst, dass das Sehen ein sehr komplexer Vorgang ist, dass es verschiedene, unterschiedlich bedeutsame Aufgaben des Sehens gibt, die unabhängig voneinander verändert oder gestört werden können und zu Sehbehinderungen mit unterschiedlichen Schadenwert für das einzelne Individuum führen. Diese Behinderungen des Sehaktes bedingen praktisch immer einen mehr oder weniger starken Verlust an Kontakt zur Umwelt. Dies erklärt zugleich, warum jegliche Erkrankung des Auges oder eine auch nur vorübergehende Beeinträchtigung seiner Funktionen einen Menschen so tiefgreifend zu beeindrucken beziehungsweise zu beunruhigen vermag.

 

Das Auge ist nicht ausschließlich Organ des Sehens. Licht dient nicht nur dem Sehen und damit dem Kontakt zur Umwelt und der Persönlichkeitsbildung, sondern besitzt auch eine für vegetative Vorgänge im Organismus nicht unbedeutende Mittlerrolle. Dass das ins Auge einfallende Licht auch biologische Funktionen reguliert und steuert, ist schon immer vermutet worden, jedoch wurde erst relativ spät erkannt, dass bestimmte Körperfunktionen unter Ausschluss von Licht anders ablaufen als unter dessen Einwirkung, zum Beispiel beim Blinden. Das bedeutet, dass zunehmender Sehverlust, wie beispielsweise der durch den altersbedingten grauen Star, nicht nur zu einem Verlust an Umweltkontakt, sondern auch zu einer Veränderung von Körperfunktionen führt.

 

Das Auge ist also Teil des Gesamtorganismus und hat mit diesem einen wechselseitigen Kontakt. Krankheiten des Körpers können Zeichen am und im Auge auslösen beziehungsweise hinterlassen, und umgekehrt können Krankheiten des Auges sich auf den Körper und auf die Persönlichkeit des Menschen auswirken. 

 

Es ist ein alter und schöner aber auch falscher Glaube, dass das Auge das Fenster zur Seele ist. Besonders die Regenbogenhaut (Iris), jene durch Pigmente gefärbte Blende des Auges, die ja dieses Fenster durch ihre glatte Muskulatur öffnet und verschließt und damit den Lichteinfall in das Auge reguliert, besitzt großen Symbolwert. Sie ist aus zwei Schichten aufgebaut: einem vorderen Teil, dem  Stroma, dessen in ihm enthaltene Pigment die Augenfarbe bestimmt, und einem hinteren, dem Pigmentblatt, dessen Pigment bewirkt, dass Streulicht gefiltert, die Intensität des einfallenden Lichtes reguliert und damit die Optik verbessert wird. Da die Struktur des Irisstromas bei jedem Menschen unterschiedlich ausgeprägt ist, wird die Iriserkennung ähnlich dem Fingerabdruck zur Personenidentifizierung (Biometrie) benutzt.

 

Die sogenannte Irisdiagnostik behauptet, durch Beobachtung des Zustandes und der Veränderlichkeit des sichtbaren Irisgewebes Aussagen über Krankheiten oder Anfälligkeit für sie machen zu können. Zahlreiche anatomisch-histologische Untersuchungen haben eindeutig gezeigt, dass dies nicht möglich ist. Anders verhält es sich mit dem Pupillenspiel. Mit Hilfe der Pupillometrie, einem diagnostischen Messverfahren der Pupillengrößen und Lichtreaktionen, können neurologische Erkrankungen und Störungen sowie Medikamenteneinflüsse erkannt werden.

 

Obwohl auch jeder nicht-visuelle sensorische Reiz die Pupille erweitern kann, ist die Erweiterung durch emotionale Faktoren wie Furcht, Angst und Freude doch am größten, sodass hieraus Aussagen über Menschen, ihre Emotionen und sogar ihre Bedürfnisse gemacht werden können. So versuchte man mit wissenschaftlichen Methoden Veränderungen der seelischen und geistigen Aktivität eines Menschen in der wechselnden Größe der Pupille zu registrieren. Der US-amerikanische Psychologieprofessor Eckhard Hess, der unter anderem die Reaktionen der Pupille auf psychische Prozesse untersuchte, gibt in seinem Buch „Das sprechende Auge“ beeindruckende Beispiele dafür, wie die Pupille verborgene Reaktionen des Menschen verrät. Weil diese Reaktionen auch für Werbung und Marketing sowie in der Politik wirksam genutzt werden können, sind sie heute zum großen Teil gesetzlich verboten.

 

Da das Auge den Kontakt zur Außenwelt herstellt, ist es natürlich auch ein Fenster zur Persönlichkeit des Menschen. „Das Auge“, sagte Goethe, „war vor allem Anderen das Organ, womit ich die Welt fasste.“