Auge und Kamera

Das menschliche Auge ist ein bildentwerfendes Gehäuse, eine „Kammer“ mit einer kreisrunden Öffnung, durch die Licht in einen dunklen Raum fällt.

 

Seit wir dies wissen, wird das Auge häufig und gern mit einer Fotokamera verglichen. Dieser Vergleich, der vor allem die Übereinstimmungen im Bau betont, hat sowohl unsere Vorstellungen vom Sehakt verwirrt als auch das Verständnis der Fotografie als einem bedeutsamen Ausdrucks- und Kommunikationsmittel erschwert. Schon der Vergleich mit dem Bau ist nur teilweise zutreffend. Zwar ist dem Auge und der Kamera die geometrische optische Abbildung der Umwelt durch ein geeignetes brechendes System auf der Netzhaut beziehungsweise einer fotografischen Platte als Konstruktionsprinzip gemeinsam, jedoch ist Erstere nicht als Ebene ausgebildet sondern gekrümmt und in Halbkugelform vom Sinnesepithel bedeckt. Weiterhin ist beim Fotoobjektiv die Brechkraft in einem Linsensystem mit höherem Brechungsindex zusammengefasst. Dieses „fotografische Objektiv“ befindet sich dabei in Luft, und zwar vor und hinter diesem Linsensystem. Beim Auge sind dagegen vom Hornhautscheitel bis zur Netzhaut Medien von unterschiedlicher Brechkraft für das Licht vorhanden: Hornhaut, Kammerwasser, Linse und Glaskörper. Schließlich ist bei Kameraobjektiven, die aus mehreren Linsen bestehen, eine Grundvoraussetzung für ihre Brauchbarkeit, dass diese zentriert sind, das heißt eine gemeinsame optische Achse haben. Am Auge ist diese Zentrierung äußerst mangelhaft, von einer rein optisch definierten Achse kann eigentlich nicht gesprochen werden, so dass sie ersetzt wurde durch eine bewegungsmechanisch definierte Blicklinie, die den Fixierpunkt mit dem Drehpunkt des Auges und der Fovea centralis - der Stelle des schärfsten Sehens - verbindet. Oder auch durch den geometrisch definierten Begriff der Gesichtslinie, einer Geraden zwischen Fovea und Fixierpunkt. Soweit der Vergleich mit dem Bau.

 

Ohne ein chemisches oder digitales Medium - Film oder Bildsensor - kann man nicht fotografieren, so wie man ohne Gehirn nicht erkennen kann. Ohne Gehirn ist das Auge wie ein Fotoapparat ohne Film. Auf der Netzhaut werden die Bilder zwar abgebildet aber nicht festgehalten, also auch nicht weitergeleitet und nicht registriert, vom Gehirn nicht zur Kenntnis genommen. Das Abgebildete wird nicht erkannt und somit auch später nicht wiedererkannt.

Was passiert bei diesem Abbilden, was noch nicht Sehen bedeutet? Licht fällt auf das Auge und ins Auge, wird gebrochen, abgebildet und liefert damit Informationen über Dinge, die es auf seinem Weg berührt oder passiert hat. Dabei ist das, was wir als Licht bezeichnen, nur der begrenzte Teil des elektromagnetischen Spektrums, der vom Augapfel durchgelassen und auf der Netzhaut abgebildet wird, also nur die eine Oktave zwischen 750 Nanometer (Rot) bis 400 Nanometer (Violett), der Wellenbereich des sichtbaren Lichtes. Für den restlichen Teil des elektromagnetischen Spektrums haben wir keine Sinneszellen. Der weitaus größte Teil der Wellen, vor allem infrarote und ultraviolette, wird in den vorgelagerten Augenabschnitten - Bindehaut (Konjunktiva), Hornhaut (Kornea) und Lederhaut (Sklera) - sowie dem Kammerwasser und der Linse - absorbiert. Vor allem die ultravioletten Strahlen können in diesen Strukturen vorübergehenden oder bleibenden Schaden anrichten.

 

Auge wie Kamera reagieren auf Licht. Am Auge verengen ringförmig angeordnete, parasympathisch innervierte Muskeln die Pupillenöffnung, fächerförmig verlaufende vom Sympathikus gesteuerte Fasern erweitern sie. Beide bewirken die unwillkürlicher Anpassung an die unterschiedlichen Lichtverhältnisse, das sogenannte Pupillenspiel.

Während sich bei der Betrachtung von hellen und dunklen Stellen einer Umgebung die Pupillen zusammenziehen beziehungsweise erweitern und so auch in den hellsten und dunkelsten Partien einer Szene noch Einzelheiten erkennbar bleiben, kann die Blende der Kamera nur auf eine Gesamthelligkeit eingestellt werden. Wenn der Kontrast zu groß ist, erscheinen solche Partien auf einem Foto überbelichtet, also ohne Details weiß, beziehungsweise unterbelichtet, ohne Details schwarz. Um übermäßige Kontraste zu vermeiden, muss der Helligkeitsumfang eines Objekts und dessen Umgebung mit einem Belichtungsmesser gemessen werden, was moderne Kameras heute automatisch tun.

 

Verglichen mit dem für das Auge sichtbaren Bereich des Lichts sind fotografischer Film oder Bildsensor der Netzhaut weit überlegen. Innerhalb jener Reizstärken aber, die für die sichtbare Strahlung im Laufe der Tages- und Jahreszeiten möglich sind, ist das Auge in erstaunlichem Maße an die Umweltbedingungen angepasst. Der mögliche Reizstreckenbereich, als Leuchtdichte in Apostilb gemessen, reicht von Bruchteilen eines Apostilb bis zu den Millionen hellen Sonnenlichtes. Der Grund für den großen Empfindlichkeitsbereich des Auges, der immerhin fünf Zehnerpotenzen betragen kann, liegt in dem Umstand, dass das menschliche Auge zwei Arten von Photorezeptoren besitzt: Zapfen und Stäbchen. Der Mensch braucht beide, da er ein Lebewesen ist, das in zwei Welten lebt: in einer des Tages und in einer der Nacht. Dabei dienen die etwa 6 Millionen Zapfen der Sicht bei Tage und dem Erkennen von Farben, die Stäbchen, deren Zahl auf 120 Millionen geschätzt wird, der Wahrnehmung in der Dämmerung. So gesehen ist das Auge eine Kamera mit zwei Filmarten, einem Schwarz-weiß-Film und einem Farbfilm. Bei hellem Licht arbeiten die Zapfen und ermöglichen das Farbsehen, bei Nacht die Stäbchen mit Schwarz-weiß-Reaktionen, was dazu führt, dass in der Nacht, wie es heißt, alle Katzen grau sind, aber natürlich nicht nur die. Genauso groß wie der Messbereich im Beleuchtungsniveau ist der Messbereich des Gesichtssinnes in räumlicher Hinsicht. Durch Änderung der Brechkraft der Linse kann bis ins mittlere Lebensalter jeder beliebige Objektpunkt zwischen Unendlich und 15 cm auf der Netzhaut beider Augen scharf eingestellt werden. Die hierfür besonders wichtige Eigenschaft der elastischen Linse, ihre Krümmung ändern und damit die Brechkraft steigern zu können, ein Vorgang der Akkommodation genannt wird, erfolgt in Bruchteilen einer Sekunde. Die Innervation des Ziliarmuskels, dessen Kontraktion den Akkommodationsvorgang einleitet und ermöglicht, erfolgt über den parasympathischen Anteil des vegetativen Nervensystems. Das eigentliche Programmierzentrum für diesen Muskel liegt im Mittelhirn, wo auch eine Zusammenschaltung der Innovation der Ziliarmuskeln beider Augen erfolgt, deren Zusammenwirken synchronisiert und auch im Ausmaß aufeinander abgestimmt ist. Darüber hinaus ist der Akkommodationsvorgang mit der Fusion beider Augen gekoppelt, das heißt einer solchen Drehung der Augäpfel, dass der Schnittpunkt ihrer optischen Achsen näher an das Auge heranrückt und die Augen entsprechend stärker konvergieren, womit auch eine Änderung der Pupillenweite verknüpft ist. Alle diese Schaltvorgänge werden automatisch vom Mittelhirn besorgt, ausgelöst durch eine Willkürinnervation. Je kürzer die Entfernung zwischen einem Objekt und dem Auge wird, umso weniger deutlich wird es bemerkt, bis schließlich eine Grenze erreicht wird, von der ab es dem unbewaffneten Auge unsichtbar wird. Innerhalb des erwähnten Messbereichs erscheinen dem Auge alle Dinge gleichzeitig scharf. Tatsächlich ist dies aber eine Täuschung, die durch die Fähigkeit des Auges hervorgerufen wird, die Scharfeinstellung dauernd anzupassen, wenn es ein Bild in der Tiefe abtastet. Die Kamera dagegen liefert Bilder in jedem gewünschten Grad von Unschärfe oder auch solche, bei denen ein vorherbestimmter Bereich scharf wiedergegeben wird, während alles Übrige unscharf bleibt. Der Gesichtswinkel, den das menschliche Auge scharf erfasst, beträgt etwa 20°, während es fotografische Objektive gibt, die einen Bildwinkel von 180°und mehr besitzen. Da das Auge aber beweglich ist, treten mit jeder Drehung andere Teile der Umwelt in das Blickfeld. Dabei kann die sichtbare Welt nicht auf einmal erfasst werden, es wird eine Folge von wechselnden Bildern wahrgenommen, die das Auge so gut verbindet, dass der episodische Charakter des Sehvorgangs dabei verloren geht. Im Gegensatz zur Kamera vermag das Auge Sehdinge nicht zu sammeln. Es ist nicht im Stande, schnelle Bewegungen scharf zu sehen, oder Bilder festzuhalten oder eine Anzahl von Bildern in einem einzigen Eindruck zu kombinieren. Die Kamera kann diese drei Dinge aber tun.

 

Das menschliche Auge zeichnet sich durch ein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit und Präzision aus: es kann sehr schnelle Bewegungen ausführen, seine Einstellung von der Ferne auf die Nähe augenblicklich ändern, sich unterschiedlichen Beleuchtungsverhältnissen anpassen und Entfernungen und Bewegungsrichtungen abschätzen. Das Auge sieht jeden Gegenstand, auf den es gerichtet ist, in einem Zusammenhang mit seiner Umgebung, es verbindet den Teil mit dem Ganzen. Wir sehen keine scharfen Grenzen zwischen den Dingen, die wir scharf sehen, und den Dingen, die an der Peripherie oder sogar außerhalb unseres Gesichtsfeldes liegen. Im Gegensatz dazu zeigt das vom Fotoapparat aufgezeichnete Bild das Objekt außerhalb eines Zusammenhanges, abgetrennt von seiner Umgebung und losgelöst aus seiner Atmosphäre, so dass sich die Aufmerksamkeit des Betrachters allein auf das Objekt richtet und das Bild aus sich heraus wirken muss. Deswegen kann ein Objekt, das in der Wirklichkeit reizvoll ist, als fotografisches Bild langweilig wirken, wenn es von den Dingen geschieden wird, die rundherum waren, also von den Elementen der Atmosphäre.